...dass das Publicum ein Recht auf den Beirath rechtskundiger Sachwalter in freier Concurrenz hat...

(Rudolf Gneist, Freie Advocatur, 1867)

Ausstellung Hans Calmeyer

Der Osnabrücker Hans Calmeyer (1903-1972) bewahrte während der deutschen Besatzung der Niederlande Tausende von Juden vor der Deportation und damit vor der Ermordung in den NS-Vernichtungslagern. Dennoch ist der Name Calmeyer bei Juristen in Deutschland weitgehend unbekannt.

Homepage: http://www.hans-calmeyer.de

Calmeyer wird 1941 Referent der sogenannten “Entscheidungsstelle für Zweifelsfragen der Abstammung” – es gibt eine “Dienststelle Calmeyer”. Die “Nürnberger Rassengesetze” von 1935 gelten auch in den Niederlanden. Die Frage nach dem Grad des Anteils an “jüdischem Erbgut” kann in diesen Tagen über Freiheit, Verfolgung und Ermordung entscheiden. Calmeyers Dienststelle arbeitet in der Folgezeit keineswegs nach Vorschrift: Juden wird nahegelegt, vor einer “rassischen Klassifizierung” ihre Unterlagen verloren zu haben. Selbst mündliche Abstammungsbekundungen werden anerkannt. Um die deutsche gründliche Verwaltungsmaschinerie zufrieden zu stellen, akzeptieren Calmeyer und seine Mitarbeiter Abstammungsnachweise aller Art – sie müssen nur einigermaßen glaubwürdig erscheinen. Zu Calmeyers Rettungswerk gehören eine Reihe von niederländischen Juristen, Pastoren, Ärzten, Standesbeamten und Bürgermeistern, die verschwiegene Teile der “Fälscherfabrik” von historischen Dokumenten werden. Der Jurist Calmeyer schlägt die Bürokratie der Vernichtung mit ihren eigenen Waffen: Mit Abstammungsurkunden und Unterlagen, die von einem verschworenen Helfernetzwerk für deutsche Gründlichkeit gewissenhaft gefälscht werden. Eine Vielzahl von Antragstellern kann Calmeyer aufgrund dieser “Unterlagen” sofort “entlasten” – ihm gelingt zudem, die Bearbeitung einer Reihe von Zweifelsfällen bewusst zu verschleppen, um Zeit gegen den kollektiven Rassenwahn zu gewinnen. Die Alliierten befinden sich ab 1943 auf allen Fronten auf dem Vormarsch.

Doch auch Calmeyer gerät in ein menschliches Dilemma: Wenn er allen Antragstellern arische Eltern und Vorfahren verschafft, fliegt sein konspirativer Fälscherring auf. Mit der Sprache der Nazijustiz muss er ohnehin operieren – die Umstände erfordern es, dass er auch jüdische Abkunft attestieren muss. Eine Belastung seines Gewissens, die ihn den Rest seines Lebens verfolgen wird. Der Taktiker muss Mitschuld auf sich laden, um Menschen retten zu können. Durch seine beispiellose Tat rettet er bis 1945 Tausenden Menschen jüdischen Glaubens das Leben. Die israelische Forschungs- und Gedenkstätte YAD VASHEM verlieh Calmeyer deswegen 1992 posthum den Titel „Gerechter der Völker“.

Auf der Festtagung anlässlich des 50jährigen Jubiläums der Arbeitsgemeinschaft für Verwaltungsrecht im Deutschen Anwaltverein, Landesgruppe NRW am 9. Dezember 2005 skizzierte der renommierte Konstanzer Universitätsprofessor Bernd Rüthers das Leben und Wirken Calmeyers. Er sagte unter anderem:

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„An Calmeyers Schicksal werden die tragischen Widersprüche sichtbar, in die ein Mensch gerät, der sich bewusst auf die Mitarbeit in einem verbrecherischen System einlässt und täglich neu entscheiden muss, wie weit er in seinem heimlichen, misstrauisch beäugten Widerstand gehen kann, wenn er seine Ziele erreichen und überleben will. Er wird Teil des Mordsystems, um Morde verhindern zu können. Der Erfüllungsgehilfe der Massenmorde wird zum Retter der Gefährdeten. Das Zwielicht dieser Rolle ist offenkundig und war ihm selbst voll bewusst.“

(Universitätsprofessor Bernd Rüthers, 2005 )

In der für den Deutschen Anwaltstag 2023 aktualiserten Ausstellung sind Bilder und Dokumente zu sehen, die bisher unveröffentlicht waren. Sie zeigen Calmeyer als einen intelligenten Verwaltungsjuristen, der sein ganzes juristisches Geschick darauf verwendete, möglichst viele Menschen vor der Deportation (und damit dem fast sicheren Tod) zu bewahren. Calmeyers Listen sind in mehrfacher Hinsicht weitaus interessanter als die Liste eines Oskar Schindler.

Autor der Ausstellung (und des obigen – nur geringfügig abgeänderten und ergänzten – Textes) ist der Osnabrücker Historiker und Dokumentarfilmer Dr. Joachim Castan.