...dass das Publicum ein Recht auf den Beirath rechtskundiger Sachwalter in freier Concurrenz hat...

(Rudolf Gneist, Freie Advocatur, 1867)

Gottlieb Wilhelm Freudentheil

Rechtsanwalt Gottlieb Wilhelm Freudentheil und die erste deutsche Anwälteversammlung 1846 in Hamburg

Vorgeschichte

Tatsächlich sollte das erste Treffen von Advokaten und Anwälten aus ganz Deutschland am 18. Juli 1844 in Mainz stattfinden. Ein Organisationskomitee hatte die amtliche Erlaubnis eingeholt und in den einschlägigen Zeitungen das Veranstaltungsdatum bekannt gemacht. Dennoch erregte das Unternehmen, wie Weißler in seiner „Geschichte der Rechtsanwaltschaft“ (1905) schreibt, „das Misstrauen der maßgebenden Kreise. Die Sache hatte einen verdächtigen Einheitsgeruch; es konnten da unbequeme schwarz-rot-goldene Reden gehalten, lästige Probleme, wie Mündlichkeit, Öffentlichkeit, Schwurgerichte, Pressfreiheit, angeschnitten werden“ (S. 509). Im Februar 1844 untersagten die preußische und die bayerische Regierung allen Justizkommissaren bzw. Advokaten ihres Landes die Teilnahme, im Juni 1844 folgte Kurhessen. Der hessische Großherzog, der die Genehmigung zuvor erteilt hatte, verhängte per Ministerialerlaß Auflagen (die Teilnahme von Nichtanwälten und jede Befassung mit öffentlichem Recht oder gar auf eine Vereinsgründung zielende Beschlüsse wurden verboten), welche den Organisatoren nicht akzeptabel erschienen, weswegen sie sich zu einer Absage der Versammlung entschlossen.

Die neue Initiative, getragen von dem Advokaten Paul Römisch, nahm in Leipzig ihren Ausgang. Allerdings war auch die sächsische Regierung nicht bereit, ihr Territorium einer Versammlung von Anwälten aus einer Vielzahl deutscher Länder zur Verfügung zu stellen, weswegen der neu gegründete Organisationsausschuß zunächst Kiel und schließlich, als auch die dortige Regierung die Gestattung verweigerte, Hamburg als Veranstaltungsort auserkor. Die am 27. Juli 1846 von dem Pinneberger Obergerichtsadvokaten J. Gülich unterzeichnete Bekanntmachung formulierte vorsichtig, es sei von Anwälten „aus verschiedenen Gegenden Deutschlands“ gemeldet worden, dass sie „zum 6, 7. und 8. August d.J. nach der freien Stadt Hamburg kommen wollen, um in dem Austausche der Gedanken ein gültiges Menschenrecht dort auszuüben“ (zit. nach Weißler aaO, S. 517).

Tatsächlich konnte die Versammlung – zur Überraschung mancher Anwesenden, die mehr als ein informelles Zusammensein nicht mehr erwartet hatten – am 6. August 1846 um 9 Uhr im Saal der Freimaurerloge durch den Advokaten Heckscher (Hamburg) eröffnet werden. Den Leipziger Römisch wählte man zum Präsidenten und den aus Stade kommenden Freudentheil zum Ehrenpräsidenten. Insgesamt waren 85 Anwälte gekommen, darunter 47 Hamburger, sieben Altonaer  und ebenfalls sieben Kollegen aus Sachsen – preußische Justizkommissare fehlten.

Gottlieb Wilhelm Freudentheil

Am 24. September 1792 als jüngstes von zehn Kindern eines Kaufmanns in Stade geboren, studierte er von 1811 bis 1814 und Göttingen Jura und Philosophie und ließ sich 1814 als Advokat und Kanzleiprokurator, ab 1852 als Obergerichtsanwalt in Stade nieder. Aus seiner 1824 mit Christiane Holtermann, der Schwester eines Kollegen, geschlossenen Ehe gingen sechs Kinder hervor. Der Sohn Emil trat noch zu Lebzeiten des Vaters in dessen Praxis ein, die sehr umfangreich du mindestens nach 1848 die gesuchteste im ganzen Königreich Hannover war.

Für den Anwaltsstand und dessen Ansehen hat er sich immer energisch eingesetzt. In zwei Schriften (1831 und 1837) zeigte er die Unterdrückung der Advokatur auf, die der Willkür der Richter ausgesetzt war. Er war es, der die Selbstverwaltung der Anwälte durch Einrichtung von Anwaltskammern forderte. Bis dahin sollten Rechtsanwaltsvereine für Zugang und Disziplinaraufsicht sorgen. Sofort nach der Gründung des ersten Anwaltvereins in Hannover gründete er einen solchen in Stade, deren Vizedirektor Freudentheil wurde.

Freudentheil war schriftstellerisch sehr aktiv. Seit 1833 arbeitete er an einem historischen Abriß des Advokatenstandes, der offenkundig eine Art Weltgeschichte der Anwaltschaft werden sollte und nur bis zu einem handschriftlichen Entwurf gedieh (vgl. Weißler aaO, S.450). Auch das Vorwort zu dem im folgenden näher beschriebenen Versammlungsprotokoll enthält einen ausführlichen historischen Abschnitt – in der Tat gilt Freudentheil als „der erste Geschichtsschreiber der Rechtsanwaltschaft“ (Weißler aaO).  

1848 gehörte er dem Vorparlament, dem Fünfziger-Ausschuß und der Nationalversammlung an; er war auch Mitglied der Delegation, die dem preußischen König die Kaiserkrone anbot.

Freudentheil verstarb am 2. April 1869 an einem Herzschlag.

(Der vorstehende Text ist teilweise dem Porträt Freudentheils entnommen, das Rechtsanwalt Hans Joachim Brand in „Vergangenes heute“, Historisches und Persönliches aus der Rechtsanwaltskammer Celle, Celle 2000, S.227 veröffentlicht hat. Ich danke für die Genehmigung.)

Der Verlauf der „Anwalts-Versammlung“

Am ersten Tag referierte Paul Römisch über „Bedeutung, Zweck, Grenzen und aufzuwendende Mittel einer deutschen Advokaten-Versammlung“. In der anschließenden Diskussion formulierte Freudentheil einige Sätze, die das Anliegen der versammelten Anwälte plastisch illustrieren.

Der zweite Tag begann mit einem Vortrag Freudentheils „Über den Beruf und die Bedeutung des Advocatenstandes in heutiger Zeit“, dem der Referent noch den Vorschlag anfügte, für die Abhaltung künftiger Versammlungen bestimmte Statuten zu formulieren und zu verabschieden. Über deren Sinn und Unfang wurde heftig debattiert, schließlich setzte man eine Kommmission ein, die am Ende des dritten Tages ein „Reglement der Versammlung deutscher Anwälte“ vorlegte.

Es folgte dann der Vortrag des Advokaten Hermann Scherell, Leipzig, über Schiedsgerichte. Der von ihm gefertigte „Entwurf zu einem Statut für einen Schiedsgerichts-Verein zu Leipzig“ ist dem Protokoll als Anlage beigefügt. Die Ausführungen Scherells stießen insbesondere deswegen auf Interesse, weil das von ihm favorisierte private Streitschlichtungsverfahren unter den – im gesetzlich geregelten Prozeß keineswegs überall schon gültigen – Maximen „Öffentlichkeit“ und „Mündlichkeit“ stehen sollte, um damit deutschlandweit für deren Sinnhaftigkeit zu werben. Den fortschrittlichen Hamburgern erschien dies überflüssig, aber Scherell entgegnete ihnen, „ein schon manches Besitzender werde alles erreichen wollen, wer aber nichts habe, dem sei schon an Etwas viel gelegen“.

Anschließend referierte Claussen Obergerichtsadvokat in Kiel, über Mündlichkeit und Öffentlichkeit im Strafverfahren und insbesondere den Nutzen von Schwurgerichten. Es lohnt, diesen Vortrag und die am nächsten Tag geführte Diskussion nachzulesen, um nachvollziehen zu können, warum die Anwaltschaft seinerzeit Schwurgerichte (und nicht nur die Beteiligung von Laienrichtern) als unerlässlich für eine gerechte Urteilsfindung ansah. Da keine festen Beweisregeln mehr existierten und es womöglich auf die Würdigung von Indizien entscheidend ankäme, so Freudentheil, „habe der juristische Verstand seine Inkompetenz dadurch gleichsam ausgesprochen und sei die Einführung von Schwurgerichten notwendig geworden“ (S.148). Der „durch Erfahrungen gereifte Menschenverstand“ müsse und könne hier nur urteilen, „und zwar in ungetrübter Reinheit“; namentlich in „Tendenzprozessen“ (gemeint sind politische Verfahren) seien die Geschworenen regelmäßig ein unparteiischeres Urteil zuzutrauen als dem „vom Staate angestellten und besoldeten Richter“ (S.149). Ein weiteres zentrales Anliegen war die Trennung von Ankläger und Entscheider, also die Einrichtung einer vom Gericht unabhängigen Verfolgungsbehörde. Diese Forderungen erschienen der Versammlung so wichtig, dass über sie abgestimmt wurde:

Die nachfolgenden Anwaltstage

Auch der zweite Anwaltstag fand am 30. September 1847 in Hamburg statt, und zwar diesmal unter dem Vorsitz von Heckscher, Freudentheil war sein Stellvertreter. Auf dem dritten (August 1848 in Dresden) hatten sich die Themenschwerpunkte gewandelt: Es ging jetzt um die deutsche Rechtseinheit und Fragen der Standesverfassung (Einrichtung von Anwaltskammern mit Disziplinarbefugnissen, Abschaffung der beamtenähnlichen Stellung, freier Zugang zum Beruf). Jetzt waren auch die preußischen Kollegen in nennenswerter Zahl vertreten.